20.6.2017
Die peruanische Cordillera wollten wir auf keinen Fall missen auf unserer Reise. Noch in La Paz planen wir die Route für die letzten sechs Wochen auf dem Velo. Wir suchten uns eine von zwei Amerkanern beschriebenen Weg heraus, der von ihnen “Perus Great Divide” genannt wurde und der sich im Auf und Ab fast vollständig über einsame Schotterpisten durch die hohen Berge schlängelt. Es versprach ein fulminanter Abschluss zu werden und wie sich herausstellte, wurde es dies in der Tat!
Vorerst aber liessen wir uns per Bus nach Cusco chauffieren. Natürlich besuchten wir Machu Picchu, die wohl meistbesuchteste Sehenswürdigkeit Südamerikas. Da der direkte uns schnelle Zug dorthin schon fast unverschämt teuer war, zwängten wir uns schliesslich mit anderen Touristen in einen engen Minibus für eine siebenstündige, äusserst kurvenreiche Fahrt bis zu einem Hydrokraftwerk. Von dort ging es zu Fuss weiter für drei Stunden entlang der Bahngleise bis Aguas Calientes. Und am nächsten morgen früh reihten wir uns mit zig Touristen in die Reihe und gingen zu Fuss den Berg hoch zur Inka-Stadt. Für mich war es bereits das zweite Mal an diesem Ort, für Josep das Erste. Die Ruinenstadt hoch oben auf steil abfallenden Felsen ist durchaus ein spektakulärer Anblick, wenn auch die riesigen Touristenströme schon ein bisschen das Erlebnis zu stören vermögen. Zudem schien unser Führer die Geschichtenschreibung dieses magischen Orts mehr nach eigenem Gutdünken zu erzählen resp. erdichten und holte lieber zu einem Rundumschlag gegen die “bösen” Spanier und die Religion aus statt uns das Leben der Inkas näherzubringen. Alles in allem hat dich der Besuch von Macchu Picchu wohl trotzdem gelohnt, aber am Abend sind wir nach dem genau gleichen langwierigen Rückweg wie Hinweg doch heilfroh, wieder in Cusco zu sein.
Von Busreisen hatten wir vorerst eigentlich mehr als genug, doch schweren Herzens entscheiden wir uns, doch noch einmal in einen Nachtbus nach Ayacucho. Kurz nach der Abfahrt hält der Bus wieder und Josep steigt schnell aus, wohl aus einer glücklichen Intuition heraus. Er fand nämlich die Türe des Gepäckfachs geöffnet und drei unserer Taschen fehlten. Glücklicherweise kamen gleich darauf drei junge Kolumbianer daher mit den Taschen, die sie auf der Strasse aufgesammelt hatten. Noch einmal Glück gehabt!
Nach zwei Wochen Fahrpause, die uns schon fast ewig vorgekommen ist, sitzen wir wieder im Sattel und geniessen unsere bevorzugte Art der Reise. Auch wenn es fast von Beginn weg steil hoch ging. Wie bereits vermutet sind die peruanischen Pässe kein Zuckerschlecken… Mindestens 1000 Meter, oft auch 2000 oder sogar 3000 Meter waren jeweils am Stück zu bezwingen auf Höhen bis zu fast 5000 Metern über Meer. Unsere Alpenpässe wie Gotthard, Simplon etc. scheinen da im Vergleich munzig klein. Jeder Meter und jeder Tropfen Schweiss war es jedoch wert. Die Landschaft war wirklich durchgehend fantastisch. Hinter jeder Bergkuppe wartete eine neue Überraschung. Besonders schön waren auch die vielen Blumen: auf einer Höhe zwischen ca. 3000 und 4200 Metern blühte es überall in den unterschiedlichsten Farben.
Von Ayacucho bis Huanhelica war die Strasse zuerst noch asphaltiert aber mit wenig verkehrt, anschliessend sollten wir für längere Zeit kein Asphalt mehr zu Gesicht kriegen. Das Wetter war insbesondere zu Beginn unbeständig und jeweils ab Mittag zogen schwarze Wolken auf und wir erlebten nicht nur heftigen Regen sondern auch Hagel und Schnee. So mussten wir ab und zu Unterschlupf suchen oder den Tag früher abbrechen als geplant.
An einem dieser Tage setzte genau auf dem Pass plötzlich strömender Regen ein und als wir im Dorf Acobambilla nach Mittag ankamen, waren wir völlig durchnässt und zitterten vor Kälte. Das Dorf hatte genau ein Hotel mit nur einem Zimmer. Als wir den Raum betraten, war der Boden voller Müll und das Bett war nicht gemacht. Als wir uns beschwerten bei der Frau, meinte sie, das sei ja nur “unser Kollege”, ein spanischer Velofahrer gewesen, der vor zwei Tagen da übernachtet hätten. Wir erklärten ihr, dass dies nicht unser Kollege sei und wir es schätzen würden, wenigstens ein einigermassen sauberes Zimmer zu haben. Da raffte sie sich etwas missmutig doch noch auf, sauber zu machen. Später servierte sie uns ein Zmittag für weniger als zwei Franken und gleichzeitig schlachtete sie mit zusammen mit zwei Frauen im Garten noch ein Schwein. Teile davon, nämlich Chicharrón (fritierte Haut- und Fleischstücke) würden uns dann gleich zum Abendessen vorgesetzt, lässt sie uns wissen. Vorher aber packt Josep noch seine Angelrute und möchte beim durchs Dorf verlaufenden Bach sein Glück versuchen. Als er nach zwei Stunden wieder auftauchte, hatte er zwar keinen Fisch gefangen aber er kam mit drei Kindern im Schlepptau zurück, mit denen er sich angefreundet hatte. Überhaupt habe er das halbe Dorf kenne gelernt: den Lehrer, den Bürgermeister, Onkeln und Tanten etc. Die ungefähr zehnjährigen Kinder durchlöcherten uns mit Fragen und waren fasziniert über unsere Velos. Das Mädchen Sarai ist sehr klug und aufgestellt und wir sind schon ein wenig schockiert, unter welch armen Umständen sie wohnt. So kocht sie jeden Morgen vor der Schule Suppe zum Frühstück für die Mutter und die kleine Schwester. Sie hat weder ein eigenes Zimmer noch ein Bett, sondern schläft auf dem Boden in ein paar Decken gehüllt. Flugs war die Zeit bis zum Abendessen verflogen mit den Kindern und wir verspiesen den nicht so ganz geniessbaren Chicharrón vom armen, heute Mittag geschlachteten Schwein.
Überhaupt waren die Leute in diesem Teil von Peru sehr freundlich zu uns und wir stoppen unterwegs öfters zu einem kleinen Schwatz mit den Lokalen. Insbesondere Schäfer treffen wir immer wieder an und dies meist an den abgelegensten Orten. Sie bewohnen einfachste Hütten aus Lehm und Stroh, meist ohne Elektrizität und fliessendem Wasser. Wenigsten habe er seit kurzem einen Gasherd und müsse nun nicht mehr mit Holz heizen, erzählt uns einer der Schäfer. Bei jeder der zahlreichen Schaf- und Lamaherden waren jedoch zu unserem Leidwesen die Hirtenhunde nicht weit und stürzten uns meist in Gruppen von bis zu fünf Hunden laut bellend und zähnefletschend entgegen. Nach einiger Zeit stellten wir fest, dass kurz Absteigen das beste Rezept gegen die Bestien war; noch besser als Wasser spritzen oder Kieselsteine werfen…
Übernachtungsmöglichkeiten waren immer leicht zu finden. In fast allen Dörfern gab es mindestens eine “Hospedaje Municipal”, wenn sie auch teilweise sehr rustikal waren. Und schöne Zeltplätze liessen sich massenweise finden zwischen den Dörfern und wir genossen einige mehr als spektakuläre Plätze. Allerdings sanken die Temperaturen auf über 4000 müm meist unter Null und schon ab Sonnenuntergang um 18:00 Uhr wurde es kalt. Wir versuchten deshalb immer früh aufzustehen, so zwischen 04:30 und 05:30, um so gegen vier Uhr am Abend jeweils schon zeitig unser Nachtlager aufzuschlagen. Um 20:00 Uhr oder noch früher schliefen wir schon tief und fest nach einem anstrengenden Tag… ein Leben im Rythmus der Sonne halt.
Ganz besonders angetan hat es uns das märchenhafte Tal Yauyoscochas. Der Weg schlängelte sich entlang eines Flusses mit klarem, türkisfarbenen Wasser. Dazwischen gab es immer wieder grössere und kleinere Seen und unzählige Wasserfälle. Und zu Joseps Entzücken jede Menge Forellen… Nach dem Dorf Vilcas war waren Bauarbeiter gerade daran den bisherigen schmalen Fussweg zu einer fahrbaren Strasse auszubauen. Wir hören plötzlich einen lauten Knall und stehen wenig später an einer unpassierbaren Stelle, die sie eben mit Dynamit gesprengt hatten. Mit Hilfe der Bauarbeiter werden Velos und Gepäck separat kletternd, aber relativ schnell und behände über die Abrissstelle getragen. Wir drücken den Mannen zum Dank eine Packung Güetzi in die Hand und weiter gings.
Nach zehn Tagen auf praktisch verkehrsloser Naturstrasse war der Schock gross, als wir plötzlich auf die vielbefahrene Hauptstrasse stiessen, die Lima und Cusco verbanden. Hier machten wir erstmals richtig Bekanntschaft mit den verrückten peruanischen Autofahrern. In hohem Tempo und praktisch ohne Abstand beliebten diese uns zu überholen. Begleitet wurde dies jeweils mit einem lauten Hupen, am besten genau auf unserer Höhe oder knapp hinter uns damit wir auch so richtig schön erschrecken! Als wir sogar ein Polizeiauto beobachteten, das in einer Kurve über eine doppelt ausgezogene Linie ein anderes Auto überholte, verstanden wir, dass es hier kaum Gesetze zur Regelung des Verkehrs gibt… So waren wir äusserst froh, die fünf Kilometer hinter uns gebracht zu haben und in einem einfachen Hostel Unzerkunft gefunden hatten in Chicla. Um 07:00 Uhr müssten wir am nächsten Morgen jedoch schon raus sein, denn am Sonntag würden sie nicht arbeiten. Mit Müh und Not konnten wir immerhin 08:00 Uhr rausschlagen, denn wir waren hundemüde, und fanden eine Mitfahrgelegenheit für den nächsten morgen in einem Pickup für die restlichen 15 km auf der Carretera Central. Im nächsten Dorf, in Marcapomacocha legten wir einen wohlverdienten Ruhetag ein.
Nach Marcapomacocha liessen wir die Zivilisation mit Ausnahme von einem kleinen Dorf 14 km weiter für zwei Tage hinter uns und genossen die Einsamkeit. Bei der äusserst ruppigen Abfahrt vom Pass Chochopampas knallte es plötzlich laut: der Vorderreifen von Josep ist geplatzt! Glücklicherweise hatten wir noch einen Ersatzreifen dabei.
Ins sympathische Dorf Parquin kamen wir gerade rechtzeitig zur Mittagszeit. Im “Comedor” des Dorfes verspiesen wir ein gutes Mittagessen inkl. Suppe für weniger als zwei Franken pro Person. Und schon wartete der nächste Pass. Dieses Mal hatten wir etwas Mühe, einen geeigneten Zeltplatz zu finden, weil das Tal überall steil abfiel in eine tiefe Schlucht. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit fanden wir doch noch ein verstecktes Plätzli auf einer Kuhwiese. Der höchste Pass und Punkt unserer Reise erklommen wir am nächsten Tag: die Abra Rapaz mit 4961 Meter. Der schönste Pass war es jedoch nicht, denn oben störte eine riesige Miene mit einem grossen Auffangbecken für die vermutlich ziemlich umweltschädlichen Ausflüsse das Bild. Dafür erhaschten wir in der Ferne einen Blick auf die weissen Gipfel der wunderschönen Cordillera Huayhuash. Diesen näherten wir uns nun immer weiter an. In der eher hässlichen Minenstadt Oyon legten wir noch einmal eine Pause ein. Noch einmal erklommen wir einen 4800 Meter hohen Pass, bevor die wohl bisher längste Abfahrt dieser Reise folgte: über 70 Kilometer und ganze 3000 Meter runter fast an einem Stück. Wir fanden uns unten auf 1500 Meter in der Wüste und in einer schon fast unverträglichen Hitze wieder. Natürlich ging es nun gleich wieder fast 3000 Kilometer hoch… Inmitten von Kakteen fanden wir einen gemütlichen Zeltplatz, was für ein Kontrast zu den üppigen Blumenwiesen weiter oben!
Am nächsten Tag erklommen wir über steile Schotterpiste über 2000 Höhenmeter, unser Rekordtag bezüglich geleisteten Höhenmetern. Wir sind froh, der Hitze entgangen und wieder in der Höhe zu sein! Im Auf und Ab näherten wir uns nun immer weiter Huaraz an.
Vor der Stadt Huaraz erspähten wir die ersten Gipfel der Cordillera Blanca. Diese Region wird auch die peruanische Schweiz genannt und ist ein Bergsteigerparadies. Wobei die Bergsteiger sich hier “Andinistas” und natürlich nicht “Alpinistas” nennen. Nachdem wir seit Ayacucho mit der Ausnahme von drei anderen Fahrradtourern keine westlichen Touristen mehr gesehen hatten, waren wir hier natürlich nicht mehr die einzigen. Aber zum Glück ist der Touristenauflauf doch deutlich kleiner als in Cusco und die Stadt ist sehr entspannt. Perfekt, um uns etwas auszuruhen, bevor wir die letzte Fahrradwoche unserer Reise unter die Räder nahmen… Insbesondere auf den Cordillera Blanca Loop freuen wir uns besonders, der uns über zwei hohe Pässe mitten durch einige der um die 6700 Meter hohen Eisriesen führt. Erstes Ziel war der spektakuläre, 4800 Meter hohe Pass Punta Olimpica. Die Aussichten auf die Gipfel und die fast unmittelbar neben der Strasse gelegenen Gletscher war fantastisch. Bis zu einem auf 4700 Meter hohen Tunnel war die Strasse asphaltiert. Wir liessen es uns nicht nehmen, die alte Passhöhe über den nicht mehr unterhaltenen Schotterweg zu bezwingen. Einige Male mussten wir unsere Räder über grosse Steinhaufen tragen oder durch Schneefelder stossen und kamen somit nir langsam voran. Umso mehr genossen wir das einzigartige Panorama.
Auch der zweite Pass dieser viertägige Runde war absolut spektakulär. Noch ein letztes Mal hiess es für ungefähr 1200 Höhenmeter kräftig in die Pedale treten, denn dies war der letzte hohe Pass unserer Reise. Zusammen mit ein paar Kühen genossen wir die Aussicht von der Passhöhe.
Nun ging es fast nur noch runter, 4700 Meter bis zum Meer. Doch die Abfahrt wurde vor allem für mich nicht so gemütlich wie gedacht. Daran schuld waren einerseits die schlechte Schotterpiste im ersten Stück und ein ständiger, vom Meer herkommender Gegenwind. Zudem hatte ich nach dem Verzehr von “Chochos” (weisse Bohnen mit Limetten, Zwiebeln und Tomaten), die uns einige am vorherigen Tag kennengelernte Peruaner geschenkt hatten, die bisher schlimmste Magenverstimmung. Und mit Übelkeit eine holprige Schotterpiste herunterzufahren ist definitiv keine angenehme Angelegenheit. Mein Appetit kehrte erst nach etwa drei Tagen bei unserer Ankunft in Trujillo zurück und um diese weissen Bohnen werde ich in Zukunft definitiv einen grossen Bogen machen! Der Weg zur Küste führte durch den Cañon del pato, eine tiefe Schlucht mit einer Strasse die durch zig kürzere und längere Tunnel führt.
Neben dem Fluss Santa verbringen wir die letzte Zeltnacht unserer Reise. Langsam aber sicher stellt sich ein Bisschen ein melancholisches Gefühl ein. Einerseits sind wir traurig; bestimmt werden wir das Fahrradfahren und die damit verbundene Freiheit vermissen. Andererseits sind wir aber auch erleichtert, unsere Körper schreien nach den anstrengenden letzten Wochen in Peru nach Erholung und wir freuen uns auf das baldige Wiedersehen mit Familie und Freunden. Nach den letzten 120 Kilometern haben wir den Ort Santa an der Küste erreicht und legen die letzten Kilometer bis Trujillo entlang der vielbefahrenen und landschaftlich für uns wenig ansprechenden Panamericana per Bus zurück. Unterkunft in Trujillo finden wir im wohl ältesten Casa de ciclistas Südamerikas. Nun schon seit 35 Jahren bietet der ehemalige Radprofi Lucho Velofahrern eine Unterkunft in der peruanischen Hafenstadt. Lucho beeindruckt uns durch seine Leidenschaft und Einsatz fürs Radfahren. So leiht er beispielsweise Buben aus armen Verhältnissen Velos aus und trainiert mit ihnen. Oder kämpft für dir Rechte von Fahrradfahrern auf Perus Strassen – kein einfaches Unterfangen, das Geschick im Umgang mit Behörden verlangt. Er organisiert auch mindestens ein Fahrradrennen. Voller Stolz zeigt er uns Photos von seinem Besuch der Tour de France im Jahr 2004 und er kennt sich aus mit allen bekannten Radsportlern. Wir tragen uns natürlich in sein Gästebuch ein – bereits Nummer sechs! In diesen sind manche bekannte Radtoureros verewigt, die viel länger als wir auf zwei Rädern unterwegs sind oder waren. Zum Beispiel Claude Marthaler oder auch Heinz Stücke, seit unglaublichen 51 Jahren unterwegs. Dieser Ort ist für uns auf jeden Fall ein würdiger Abschluss unserer Fahrradreise! Nach zwei Tagen in Trujillo, die wir mit spannenden Gesprächen und dem Verspeisen von feinem Ceviche (roher, in Limettensaft eingelegter Fisch) verbrachten, verabschiedeten wir uns von Lucho und stiegen in den Bus Richtung Ecuador.